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»Hört doch mal auf zu beten, ich sterbe doch nicht!«

Er kam als Kind aus der Türkei nach Deutschland. In den letzten Jahren starben vier seiner engsten Angehörigen. Zuletzt seine Schwester, die er im Ricam Hospiz bis zu ihrem Tod begleitet hat. Er weiß, wie schwer die Last und die Sorge um nahe Angehörige wiegt.

Im Gespräch mit Cumali Kumru

Herr Kumru, Sie haben tragische Verluste erlebt. Ja, meinen Bruder habe ich vor 6 Jahren verloren. Er war knapp 50. Lungenfellkrebs. Nach dem Tod meines Bruders ist mein Vater verstorben. Er war 86 und durch die Trauer ist er ganz plötzlich erkrankt. 8 Monate später ist er gestorben. Dann wurde meine Mutter krank. 3 Jahre später ist auch sie gestorben. Und nun meine Schwester im stationären Ricam Hospiz. Wir waren einst zu sechst in der Familie. Jetzt nur noch zu zweit.

In der türkischen Community ist es bislang nicht sehr verbreitet, Unterstützung in einem Hospiz zu suchen. Wie kam das? Ich habe das Ricam Hospiz empfohlen bekommen. Dann habe ich einen Termin gemacht, obwohl ich Vorbehalte hatte. Ich dachte, ein Hospiz? Das kann bestimmt nicht gut sein. Das ist ein privates Unternehmen. Die verdienen daran. Es ist kein Krankenhaus, was für mich erst einmal weniger Sicherheit bedeutete. Als wir dann mit meiner Schwester ins Ricam Hospiz kamen, wurden diese Vorurteile schnell abgebaut.

Was hat ihnen geholfen? Dass wir immer willkommen waren. Das Personal im Hospiz war zuvorkommend und sehr freundlich. Keiner ging an einem vorbei, ohne zu grüßen. Außerdem waren alle sehr gut ausgebildet. Nie habe ich gespürt, dass Personal knapp, an- gespannt oder gestresst war. Es gab auch so viele Ehrenamtliche. Das fand ich sehr beeindruckend. Alle waren immer für uns da und haben uns so akzeptiert wie wir sind.

Es ist unsere Pflicht, die Angehörigen bis zuletzt zu pflegen

Haben Sie es anfangs als Niederlage empfunden, ihre Schwester ins Hospiz zu geben? Im Hospiz habe ich zufällig erlebt, dass jemand im Nachbarzimmer keinen Besuch erhielt. Als die Frau im Sterben lag, wurde der Sohn verständigt, aber er kam nicht, mit der Begründung, keine Zeit zu haben. Das habe ich in meinem Umfeld noch nie erlebt. In unserer Kultur ist es Pflicht, die Angehörigen bis zuletzt zu pflegen und bis zum letzten Atemzug dabei zu sein. Es gilt als Schande, wenn man seine Eltern oder seine Familienangehörigen in ein fremdes Haus, in ein Heim bringt. Deshalb war das Hospiz für uns eine sehr große Überwindung. Meine Schwester fragte mich, warum sie nicht zu Hause bleiben könne. Aber Sie müssen sehen, wir waren als Familie extrem belastet, sind von sechs auf zwei geschrumpft. Wir konnten nicht mehr. Es war für uns alle das Beste, was wir tun konnten. Wir durften jederzeit bei ihr sein und waren es auch. Niemand hat uns gesagt, das ginge jetzt nicht. Das war sehr gut im Hospiz.

Wie ist Ihre Schwester damit umgegangen im Hospiz zu sein? Wir haben versucht, ihr einzureden, dass es hier nicht die letzte Station sei und nur vorübergehend. Doch sie hatte zu viel Erfahrung mit dem Tod. Wir konnten nichts schön reden. Sie hatte die gleiche Krankheit wie mein Bruder. Sie hatte alles bei ihm erlebt. Sie war Apothekenhelferin. Sie wusste, sie wird sterben. Und trotzdem sagte sie zwei Tage vor ihrem Tod: „Nun hört doch mal auf zu beten. Ich sterbe doch nicht.“ Das nahm uns ein wenig die Last. Wir konnten auch mal nur locker mit ihr reden. Und vielleicht auch dadurch hatten wir doch immer noch die Hoffnung, sie wird gesund – wider besseren Wissens.

Wie beurteilen Sie nach dieser Erfahrung im Hospiz, dass Familien ihre Angehörigen Einrichtungen wie Hospizen anvertrauen? Wenn Familien schrumpfen, weit voneinander entfernt leben oder sich aus anderen Gründen kaum noch sehen, wird das zum gesellschaftlichen Problem. Ich erinnere mich noch, dass wir in den 70er und 80er Jahren auch in der Woche abends immer als Familie zusammen waren. Wir haben uns besucht, es kamen Tanten, Onkel, Cousins. Täglich war die Familie zusammen. Heute ist das nicht mehr so intensiv. Umso besser es einem geht, habe ich das Gefühl, desto größer wird der Abstand zwischen den Angehörigen einer Familie. Desto mehr will jeder seine Ruhe. Dann wird jemand krank und stirbt allein. Es ist eher ein Problem des Wohlstands und hat weniger mit der Nationalität oder Kultur zu tun. Im Hospiz hatten wir beides – Entlastung und Familie. Wir haben dort miteinander leben gelernt. Wenn alle wüssten, was ein Hospiz ist, würden Menschen anders darüber denken.

Haben Sie sich um alles Organisatorische gekümmert, waren Sie der Case Manager in der Familie? Ich wollte immer, dass meine Schwester alle Entscheidungen selbst trifft. Ich habe eher beraten, weil ich im Gesundheitswesen arbeite. Meist hat sie auf mich gehört.

Wie haben Sie die Last und die Sorge getragen? Im Nachhinein verstehe ich gar nicht, wie ich das alles ausgehalten habe. Zu den organisatorischen Belastungen kommen ja familiäre und emotionale Herausforderungen hinzu. Aber in der Situation, wenn die Aufgaben anstehen, erledige ich sie. Dann gibt es wenig Zeit zu spüren, wie es einem selbst damit geht. Das kommt erst später.

Wie gehen Sie mit Ihrer eigenen Endlichkeit um? Niemand weiß, wann für ihn die Zeit kommt, Abschied von der Welt zu nehmen. Jeder Tag könnte der letzte sein. Nach dieser Devise lebe ich. Ich ernähre mich gesund, treibe Sport und versuche meine Beziehungen zu anderen Menschen harmonisch zu führen. Ich glaube, durch die Erfahrungen mit dem Tod lebe ich wesentlich bewusster.

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