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Ein Geschenk zu sehen, wie Sterben gehen kann

Sie steht erwartungsvoll an der geöffneten Wohnungstür. Begrüßt mich mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wir freuen uns, dass Sie da sind!“ Ihr Mann, schwer erkrankt, hat in den letzten drei Jahren viel Zeit in Krankenhäusern verbracht. Seine letzte Lebenszeit soll er zu Hause sein. Das haben sie gemeinsam entschieden.

Halb sitzend in seinem Pflegebett, empfängt er mich. Das gemeinsame Schlafzimmer haben sie zum Krankenzimmer erklärt. Ich schiebe mir den unbenutzten Toilettenstuhl – seine Frau betont „unbenutzt“ – an sein Bett. Auf dem Stuhl liegt ein kuscheliges Schaffell – wie zur Tarnung – damit man den eigentlichen Zweck des Stuhls nicht bemerkt. Sie erklärt ihrem Mann, wer ich bin und woher ich komme. Schließlich kämen viele verschiedene Menschen täglich zu ihnen nach Hause: Das Pflegeteam, das ihn bei der Körperpflege unterstützt, der Palliativ-Pflegedienst, die Palliativ-Ärztin, der Physiotherapeut, die Apotheke und nun auch noch ich. Da könne man schnell durcheinander kommen.

Ich sei „nur“ für seine Unterhaltung zuständig, sagt sie zu ihm und zwinkert mir komplizenhaft zu. Sie verschwindet in die Küche und klappert mit Geschirr. Ich nutze die Zeit, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er erzählt mir, dass sie seit über fünfzig Jahren verheiratet sind. Genauso lange wohnen sie in dieser Wohnung. Für mich kaum vorstellbar. Dann erzählt er über ihre Tochter und die zwei Enkelkinder.
Seine Frau kommt mit einem fahrbaren Tablett herein, auf dem sie Obst, Kuchen; Kaffee und Tee liebevoll angerichtet hat und schiebt es so zu ihrem Mann heran, dass er bequem nach Lust und Laune zugreifen kann. Für ihn hat sie kleine, mundgerechte Häppchen geschnitten. Ich werde eingeladen, mich zu bedienen und so naschen wir gemeinsam von den Köstlichkeiten, während wir plaudern. Es fühlt sich alles so harmonisch an, so zufrieden.

Nach einiger Zeit wird er sehr müde. Wir lassen ihn allein, damit er sich ausruhen kann. Ich gehe mit seiner Frau ins Nebenzimmer. Sie sieht mich traurig an. „Er wird jetzt immer so schnell müde“, sagt sie und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Wir sehen uns schweigend an. Sie erzählt mir von ihren Ängsten und Sorgen. Vor allem belaste sie der Gedanke, dass es noch sehr lange so gehen könnte. Denn das würde sie nur schwer ertragen können. „Sterben muss er ja nun so oder so, dann kann es auch schnell gehen, damit er sich nicht quält“, sagte sie.
Wir vereinbaren den nächsten Termin in einer Woche. Wir wollen zwischendurch telefonieren. Beim Abschied fällt sie mir um den Hals und bedankt sich. Nun komme ich regelmäßig. Ich sitze bei ihm am Bett. Sie macht Erledigungen, zu denen sie kaum noch kommt. Zusehends wird er blasser, das Sprechen fällt ihm deutlich schwerer. Dann kommt der Tag, an dem er nicht mehr ansprechbar ist.

Sie sagt mir, dass sie nicht weiß, ob sie es kräftemäßig durch- hält, ihn bis zum Schluss zu Hause zu lassen. Die Palliativärztin habe ihr angeboten, ihren Mann im Hospiz anzumelden. Ich spüre, dass sie schwankt, nicht weiß, was richtig ist oder das Beste. Besonders mache sie sich darüber Sorgen, dass ihr Mann zu Hause nicht genug Pflege bekomme. Der Pflegedienst würde oft nicht pünktlich kommen oder gar nicht. Es gäbe nicht genügend Personal. Allein kann sie die Pflege nicht mehr schaffen, weil ihr Mann nun nicht mehr mithelfen kann beim Drehen und Lagern. Sie sagt mir, sie wünsche sich so sehr, dass er zu Hause bei ihr bleiben kann. Und dann sage ich ihr, was ich empfinde, dass ihr Mann hier in seiner vertrauten Umgebung mit seinen liebsten Menschen ist und dass ich ganz viel Frieden spüren kann. Nach einem langen Gespräch nimmt sie sich vor, noch einmal mit den Pflegediensten zu reden und auf die vereinbarten Zeiten zu bestehen. Sie würde mit ihrer Tochter sprechen und eine Entscheidung treffen.

Auch wenn ich natürlich jede ihrer Entscheidungen unterstützt hätte, bin ich irgendwie erleichtert, als sie mir beim nächsten Besucht sagt: Sie wolle nun gemeinsam mit ihrer Tochter weiter alles tun, damit ihr Ehemann und Vater zu Hause bleiben könne – bis zum Schluss.
Drei Tage später ruft sie an. Sie weint am Telefon. Ich sage wenig, höre ihr nur zu. In ihrer Trauer wirkt sie nahezu glücklich darüber, dass sie ihn zu Hause gelassen habe. Sie bedankt sich und verspricht sich zu melden, wenn sie alles Nötige für die Beerdigung erledigt hat. Sie möchte sich noch einmal auf einen Kaffee mit mir treffen.

Einige Zeit später bin wieder bei ihr. Sie hat den Tisch liebevoll gedeckt, wie beim ersten Besuch duftet es nach Kaffee. Selbstgebackene Muffins, ein bunter Blumenstrauß und eine Kerze schmücken den Tisch. Meine Besuche, sagt sie, waren für ihren Mann und sie sehr hilfreich, beinah eine „Art Fortbildung. Ich habe durch Sie eine ganz neue Sicht auf das Sterben bekommen. Das hat mir sehr geholfen.“ Ich antworte ihr, dass es für mich ein Geschenk war, sie und ihren Mann begleiten zu dürfen und zu sehen, wie Sterben gehen kann: in vertrauter Umgebung, mit geliebten Menschen, alles gut organisiert und vor allem – in Frieden.