Magazin

Weiterleben mit Brustkrebs – Eine Familie erzählt

Familie Hübner aus Berlin

Lebenszeit
Wie hast du damals auf die Diagnose reagiert?

Ruth Hübner
Anfangs sind wir noch relativ cool gewesen, weil die Ärztin sagte: „Ist nicht so schlimm, bilden Sie sich da mal nichts ein.“ Die haben mich geradezu lächerlich gemacht nach der ersten Mammographie. Im zweiten Jahr war es dann eindeutig. Die Biopsie brachte den Befund: Brustkrebs, bösartig. Da hat sich die Ärztin entschuldigt und geweint und ich natürlich auch. Für mich ist dann zunächst eine Welt zusammengebrochen. Was mache ich jetzt? Ich war völlig hilflos. Was sich aber dann eingestellt hat, war ein inneres Gebet. Und das hat uns Ruhe gebracht. Ich habe damals mit einem befreundeten Pastor gesprochen. Er sagte zu mir: „Wenn du daran sterben solltest, dann gehst du nur nach Hause.“ Und das ist in dem Moment so in mein Herz gefallen, dass ich wusste: Mir kann nichts passieren.

lebenszeit
Wie bist du mit der Vorstellung umgegangen, dass du Deine Familie zurücklassen musst?

Ruth Hübner
Das habe ich mit Gott besprochen. Natürlich habe ich mir gewünscht, dass ich meinen Sohn begleiten kann, weil ich doch seine Mutter bin. Das war mir wichtig, denn da war er doch erst acht Jahre alt. Und ich dachte, wenn mein Sohn jetzt mit meinem Mann alleine ist, der doch selbst so sehr leidet, da geht der doch ein, meine kleine Sonne! Deshalb habe ich jedes Jahr dafür gedankt, dass ich noch am Leben war. Und kurz nach seinem Abitur wusste ich – er wurde ja stärker und stärker – jetzt brauchst du dir keine Sorgen mehr um ihn machen.

lebenszeit
Wie hat euer Sohn reagiert, als er erfuhr, dass du schwer krank bist?

Ruth Hübner
Er hat zu mir gesagt: „Mama, ich sehe in deinen Augen, du bist so lebendig, du stirbst nicht. Mama, ich hab keine Angst“. Das hat er als Achtjähriger gesagt. Und da war ich schon eine Weile so krank.

lebenszeit
Und wie erinnerst du dich an diese Zeit, Tobias?

Tobias Hübner
Schwierig wurde es für mich, als sie die ersten Male ins Krankenhaus musste. Als ich alleine war und nicht mehr die auffangende Präsenz meiner Mutter hatte. Da war ein Gefühl von Einsamkeit. Als sie im Krankenhaus war, habe ich oben in ihrem Bett gepennt und war auch ein bisschen traurig. Als Kind konnte ich das intuitiv. Da habe ich einfach meine Gedanken losgelassen und mich in das Gefühl fallenlassen können.

Tobias mit seiner an Brustkrebs erkrankten Mutter Ruth

Tobias mit seiner an Brustkrebs erkrankten Mutter Ruth

lebenszeit
Hast du denn in der Zeit auch mit Freunden darüber sprechen können?

Tobias Hübner
Ich habe nicht viel davon erzählt, weil ich wusste, dass die Leute sowieso kein Ohr haben und dass es den Leuten nicht wirklich wichtig ist. Ein paar meiner Freunde war es wichtig, denen habe ich es dann auch erzählt, aber an sich ist es ja so, dass sich die Leute eher um sich selbst drehen, was ich ja auch tue und verstehen kann. Aber normalerweise hat man eben nicht viel mit dem Leid anderer zu tun. Und wenn es sie nicht interessiert, warum soll ich´s dann groß erzählen?

Ingo Hübner
Das ist die Frage – wie geht man mit dem Tod um, auch mit seinem eigenen. Wenn der Nachbar stirbt, das hört man so peripher: „Ach so, der, hast du gehört…?“ Aber es berührt einen ja nicht. Bis eben die eigene Frau stirbt. Ich weiß, sie hat so viele Metastasen, eine Heilung, rein medizinisch, ist nicht mehr möglich. Und als das jetzt losging mit dem vierten Stadium, da habe ich gesagt: Gott, du kannst mir diese Frau nicht wegnehmen! Ich wusste nicht mehr weiter, ich habe so viel geweint; ich wusste gar nicht, dass man so viel weinen kann.

Tobias Hübner

Ich merke, wie sehr mein Vater mitfühlt, aber ich glaube einfach, selber zu leiden, bringt meiner Mutter an dem Punkt gar nichts. Sondern eher sie zu unterstützen, die Traurigkeit zwar zuzulassen, aber sie dann umzuwandeln, um eine tiefe Bindung und Empathie empfinden zu können. So wie letztens, als es schlimmer war und sie Schmerzen hatte, da hab ich mich zu ihr hingesetzt, hab sie gestreichelt, hab sie gekrault, und ich habe das Gefühl, das bringt mehr, als wenn man selbst leidet. Sie hat ja schon das Leid, warum muss ich jetzt noch meines ausdrücken, wenn ich anstelle dessen vielleicht eher ihres lindern kann? Und so sehe ich dann wieder das Geschenk in der Traurigkeit, dass ich eine tiefere Bindung mit meiner Mutter eingehen kann.

Ruth Hübner
Mein Mann hat sich natürlich sehr an mich geklammert. Ich bin immer ein fröhlicher Mensch gewesen, der ihn auch getröstet und aufgebaut hat. Ich war nie diejenige, die oft im Keller war. Und jetzt fällt genau das weg.

Die an Brustkrebs erkrankte Ruth mit ihrem Mann Ingo

Die an Brustkrebs erkrankte Ruth mit ihrem Mann Ingo

Ruth und Ingo – das war die »Liebe auf den ersten Blick«. Sechs Wochen nach dem Kennenlernen haben sie geheiratet. Zwei Jahre später kam ihr Sohn, Tobias. Ingo arbeitete als Elektromeister, Ruth als Arzthelferin in einer Praxis. Beinah hätten sie noch ein Haus gebaut. „Wir wurden gestoppt“, sagt Ingo, „durch die Krankheit, durch Gott.“ Beide Partner haben persönliche Erfahrungen mit dem Tod von Angehörigen. Ruths Mutter verstarb im Ricam Hospiz. Seit 2014 begleiten die Mitarbeiterinnen des ambulanten Hospizes die Familie. Ruths Gesundheitszustand ist ein Auf- und Ab. Momentan geht es ihr vergleichsweise gut – ein kleines Wunder angesichts der weit fortgeschrittenen Erkrankung und der Vielzahl an Metastasen in ihrem Körper. Im Sommer konnten sie und Ingo in Dänemark Urlaub machen. Ihr Sohn hat das Abitur bestanden und macht eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Mit Freunden will er ein Start-Up-Unternehmen gründen. Ingo versucht nach schwerer Depression, wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Ruth wünscht sich Frieden für ihn und eine neue Partnerin, wenn sie nicht mehr ist.

Ingo Hübner
Aber wenn ich sehe, wie sie leidet, wenn sie einen Schmerzdurchbruch hat, dann bricht mir das Herz. Sie hat sechs OPs hinter sich, ich erlebe das mit, ich sehe, wie das ganze Eiterwasser abgesaugt wird. Ich bin mit ihr zur Bestrahlung gegangen, diese Gammastrahlung, das ist als ob das Licht ausgeht. Und dann kann sie hinterher nicht essen. Sie will essen und weint. Das zerreißt mir mein Herz. Ich bin so oft im Inneren einfach zerbrochen, und mit dieser Verzweiflung, mit dieser Wut gehe ich zu Gott. Ich schimpfe mit ihm: Was tust du da, warum? Hilf mir doch, hilf doch! Ich meine, ich bin jetzt nicht akut suizidgefährdet, aber ich habe Phasen, wo ich einfach nicht mehr kann. Das weiß ich. Und dann kommen wieder Phasen, so wie jetzt, wo es wieder ruhiger wird. Als ihr Ehemann und Liebhaber ist es natürlich schwer, weil ich auf vieles verzichten muss. Es wird mir auch weggenommen von Gott, ich bin auch wütend und sage zu ihm: Du hast mir auch den sexuellen Drang gegeben und ich muss das alles unterdrücken. Wenn man eine Beziehung lebt, jahrelang gelebt hat, dann ist das schwer. Für mich ist das schwer. Und dadurch verschiebt sich auch die Beziehung zu ihr. Dadurch leben wir heute eher wie Bruder und Schwester zusammen.

Ruth Hübner
Für mich war das auch ein ganz schweres Thema, aber das ist es jetzt nicht mehr. Ich weiß und erfahre, dass das innere, geistige Bedürfnis viel, viel größer ist. Und wenn das beruhigt ist, dann ist auch das leibliche Bedürfnis nicht mehr wichtig. Er möchte es nicht mehr, er sagt, das kann er nicht, in dem Zustand nicht – so, und ich akzeptiere das und ich komme damit nicht nur einfach, sondern gut klar. Gott ist für mich so sehr da, dass das Bedürfnis weggegangen ist.

lebenszeit

Wie geht es für dich weiter, Ingo?

Ingo Hübner
Natürlich überlegt man sich: Was kommt danach? Was ist noch für einen selber drin im Leben? Ich muss loslassen. Ich weiß, es kann jeden Tag wieder passieren, dass sich ihr Gesundheitszustand radikal verschlechtert. Ich rechne ja damit. Im Inneren, mental, ist immer dieses Damoklesschwert über mir. Ich weiß, ihr geht es nicht so, aber ich habe es immer auf dem Schirm. Ich muss mich danach um ihre Leiche kümmern. Ich muss ja danach alles organisieren. Und dann – danach – muss ich weitermachen und in ein neues Leben starten. Und manchmal will ich das alles nicht mehr.

lebenszeit
Tobias, deine Mutter empfindet dich als eine sehr starke Persönlichkeit. Wie schaffst du all‘ das Schwere zu tragen?

Tobias Hübner
Indem ich mir erlaubt habe die Gefühle zu erleben, die hochkommen. Und dadurch, dass ich keinen Widerstand habe, den ganzen Schmerz und die Trauer zuzulassen. Mittlerweile habe ich sogar eine Art Dankbarkeit der gesamten Situation gegenüber. Was ich alles lernen durfte. Dass ich mein Glück nicht auf irgendwas Vergängliches setzen darf. Wenn ich das Vergängliche loslasse, dann lasse ich das Unvergängliche zu. Und dann ist es nicht einfach nur, dass ich ein paar Sätze oder ein paar Texte habe, die mir helfen über die Zeit zu kommen, sondern ich erfahre, was das Unvergängliche ist. Ich erfahre, dass es etwas viel Größeres, Unumstößliches gibt, was sich nie ändern wird und was ich auch nie ändern kann. Mit diesem Fundament habe ich eine Sicherheit, durchs Leben zu gehen. Selbst in dieser gesamten Situation, Freude zu erleben, was man eigentlich gar nicht erwartet. Trotz des Leids geht über mir wieder die Sonne auf. Trotzdem darf ich schöne Momente haben, ich darf essen, ich darf genießen…

lebenszeit
Ruth, was wünschst du denn deinem Mann, wenn du mal nicht mehr bist?

Ruth Hübner
Ich wünsche ihm, dass er eine Frau findet, eine ‚patente‘. Ich wünsche ihm, dass er einen tieferen Frieden mit Gott findet. Dass er dieses Bittere, was manchmal in ihm hochkommt, weil es so schwer ist, und weil er auf so vieles verzichten muss, dass die Bitterkeit weggeht und er den tieferen Sinn dahinter sieht. Der irdische Verzicht an schönen Dingen ist in Wirklichkeit nebensächlich. Wir denken immer, wir brauchen das alles, um zu leben. Ich habe vieles, worauf ich verzichten muss. Genauso wie er. Ich habe unheimlich gern Sport gemacht, aber ich kann es nicht richtig. Ich kann nicht mehr arbeiten, dabei habe ich meinen Beruf richtig gerne gemacht, leidenschaftlich, habe immer gleich eine Führungsrolle gehabt und hab die fantastisch ausgefüllt, weil´s mir Spaß gemacht hat… Das alles geht nicht mehr, weil ich einfach nicht mehr belastbar bin. Ich muss wirklich auf vieles verzichten, aber es stört mich nicht, im Gegenteil, ich bin jetzt glücklicher als vorher. Weil ich in dem Wenigen begreife, dass das hier auf der Erde nicht alles ist.

lebenszeit
Ruth, woher nimmst du diese Kraft?

Ruth Hübner
Ich habe in den schwierigen Jahren wochenlang so oft nachts nachgedacht und gebetet, um zu erfahren wie wir weitermachen können und wie wir zurechtkommen miteinander. Manche Menschen verbittern im Leid, andere finden erstmalig zu Gott, weil sie erfassen, dass nur noch Gott helfen und retten kann, wie unser Sohn Tobias, und ich merke, dass ich durch äußerliches Leid innerlich heil und in Gott stark und mutig werde.

Wäre die Tür, Jesus sagte, er sei die Tür, nicht immer für uns offen, damit wir in seinen Räumen Vergebung, Ruhe, Trost, Frieden Freundlichkeit, Zurechtweisung und Hilfe finden, hätten mein Mann und ich uns 2014 getrennt. Und ich glaube, dass ich unter all den physischen und psychischen Belastungen schon tot wäre.

Ich habe einen großen Frieden, und das ist für mich der Friede Jesu Christi. Dieser Friede ist so stark, dass die äußeren Umstände schrecklich sein können, bis hin zu seelischer Schwärze, wo ich dachte: „Jetzt gehst du kaputt, jetzt schaffst du´s nicht mehr.“ Wenn wirklich alle Stricke reißen, dann hilft es nicht mehr zu sagen: „wird schon werden“. Das wird eben nicht mehr. Man hat mir gesagt: „Sie werden sterben.“ Und da wusste ich, was ist denn, wenn ich sterbe? Dann stehe ich meines Erachtens vor Gott. Ich wusste immer: zeitlich, das vergeht sowieso, dein Leid vergeht, vielleicht stirbst du jetzt, ich hatte ja immer mal wieder Einbrüche, aber ich bin mit Gott und den Menschen im Reinen und wenn ich jetzt gehe, dann gehe ich; es ist in Ordnung. Es kommt auf das Ewige an, und das Ewige ist zeitlos. Was ich hier erlebe, sind vielleicht siebzig, achtzig Jahre, vielleicht bei mir nur fünfundfünfzig, sechsundfünfzig. Dann ist es vorbei. Aber dann beginnt für mich das Leben wirklich.

lebenszeit
Habt herzlichen Dank für dieses Gespräch.
(Das Gespräch führte Maik Turni)

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter. Regelmäßig senden wir Ihnen Artikel, Interviews, Videos und Hintergrundinformationen zum Thema Hospiz.