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„Meine Mama macht alle gesund und dann sind sie tot“ – Gespräch mit Petra Anwar

Wie hast Du Deinen Kindern erklärt, was Du beruflich tust, als sie danach zu fragen begannen?

Eigentlich haben meine Kinder nie gefragt, was ich beruflich mache, weil meine drei Söhne damit aufgewachsen sind. Sie sind schon als kleine Kinder mit im Hospiz gewesen, haben an vielen Feiern im Hospiz teilgenommen, so dass keine Berührungsängste entstanden sind. Für meine Kinder ist der Umgang mit sterbenden Patienten normal. Oft wurden Wochenendausflüge kurz unterbrochen, weil ich nochmal im Hospiz vorbeifahren musste. Auf die Frage einer Journalistin nach meinem Beruf kam die Antwort: „Meine Mama macht alle gesund und dann sind sie tot“. Da waren die Kinder gerade in der Schule.
Heute machen sie sich mehr Gedanken, begreifen mehr und finden meinen Beruf nicht mehr so gut, weil eben am Ende alle sterben. Es kommt nun auch oft der Einwand, dass ich doch einen anderen Beruf machen soll.

Wenn Ärzte Leben retten oder Kranke gesund machen, muss das sehr erfüllend sein. Du bist Palliativmedizinerin. Deine Patienten sterben meist am Ende Deiner Therapie. Welche Aspekte Deiner Arbeit erfüllen Dich? Hast Du oft das Gefühl, die Richtige für Deine Patienten zu sein, also die Richtige zur rechten Zeit am rechten Ort?

Ich mache meine Arbeit sehr gerne, und habe eigentlich Hemmungen es als meine Arbeit zu bezeichnen. Es ist nicht nur meine Arbeit oder ich empfinde es nicht als Arbeit, wenn ich beim Patienten bin. Eher sehe ich die ganzen paramedizinischen Dinge als Arbeit an: Rezepte ausfüllen, Anträge stellen, kurz, den ganzen Bürokratismus, der mich ja auch zunehmend mehr betrifft, den sehe ich als „unerwünschte“ Arbeit an.
Die Zeit, die ich beim Patienten verbringe, ist etwas anderes. Es ist meine Aufgabe in meinem Leben. Oft übernehmen wir Patienten, denen es wirklich schlecht geht, und können dann noch mal viel bewegen, indem keine Schmerzen mehr sind, oder die Ängste verschwinden und nochmal gelebt wird, aber mit einer besseren Lebensqualität. Das ist auch für uns ein schönes Gefühl. Auch die Möglichkeit einer engeren Beziehung zum Patienten, die man als Krankenhausarzt kaum hat, gibt mir viel zurück.

Was wolltest Du mal werden? Oder lautete Dein Berufswunsch schon immer Palliativmedizinerin?

Ich wollte nach dem Abitur Medizin studieren, es war eigentlich ein fast automatischer Weg. Etwas anderes habe ich gar nicht in Betracht gezogen. Während meiner Ausbildung bin ich oft mit dem Sterben im Krankenhaus, aber auch mit der mangelnden Versorgung in der Häuslichkeit konfrontiert worden. Ich war zuletzt auf einer „Krebsstation“ und viele Patienten mussten wir nach wenigen Tagen erneut aufnehmen, in einem deutlich schlechteren Allgemeinzustand, weil die medizinische und psychosoziale Versorgung zuhause nicht funktionierte. Das hat mich sehr bedrückt. Ich wollte aber auf keinen Fall weiter im Krankenhaus arbeiten, weil ich auch dort kaum Raum und Zeit für die Patienten gefunden habe um sie intensiver zu betreuen. Man kann sich dieser Maschinerie der Zeit- und Personalnot kaum entziehen und es bleibt ein Gefühl der Unzufriedenheit, die einen selbst auch mürbe macht. Zu der Zeit las ich eine Stellenanzeige der onkologischen Praxis, die einen Home Care Arzt suchte. Das war 1998. Der Home Care Verein Berlin bemüht sich seit 1995 in Berlin ein flächendeckendes ambulantes Palliativnetz zu bilden. Seit wenigen Jahren werden Home Care Ärzte auch als Palliativmediziner bezeichnet. 1998 gab es den Begriff der Palliativmedizin kaum. Diese ambulante Arbeit mit dem Ziel, dass der Mensch zuhause sterben darf, war eigentlich genau das, was ich mir für meine zukünftige ärztliche Tätigkeit wünschte. Nun bin ich seitdem in der Praxis und fühle mich dort als angestellte Palliativmedizinerin sehr wohl.

Erzähl doch mal. Seit wann arbeitest Du auch hier im Ricam Hospiz?

Seit 1998 betreue ich auch Patienten im Ricam Hospiz. Zu der Zeit war es das erste Hospiz in Berlin. Wir sind die Jahre über aneinander gewachsen, dabei erfahrener und auch älter geworden. Ich fühle mich im Ricam zuhause. All diese Jahre haben zu einer engen Bindung geführt. Ich kenne die Abläufe, die Menschen dort aus den unterschiedlichen Berufsbereichen, die Krankenschwestern und Krankenpfleger, die Reinigungstruppe, die Küchentruppe, die Bürotruppe, die Ehrenamtlichen, einfach alle. Das schafft mir eine Sicherheit, die auch der Patient spürt. Ich bin dankbar dafür, dass es das Ricam Hospiz gibt, weil nicht immer geht es zuhause zu sterben, dann ist das Hospiz für mich eine sehr gute Alternative. Es wird für viele meiner Patienten nochmal zu einem zweiten zuhause.

Würdest Du jungen Mediziner_innen die Palliativmedizin empfehlen?

Ich bin froh darüber, dass die Palliativmedizin zunehmend zum Unterrichtsinhalt im Studium wird. Als Arzt wird man immer wieder mit palliativen Situationen konfrontiert und muss Entscheidungen treffen, sodass es einfach zur ärztlichen Ausbildung dazu gehört. Ich denke aber auch, dass man im Bereich der ambulanten Palliativmedizin sowohl medizinische Erfahrung, aber auch Lebenserfahrung braucht. In der Regel steht man alleine da und muss entscheiden und dem Patienten vor allem Sicherheit anbieten.

Wie fühlst Du Dich von anderen Ärzt_innen wahrgenommen, z.B. in der Zusammenarbeit mit den Hausärzt_innen der Patient_innen? Bist Du eher Einzelkämpferin als aufsuchende Ärztin oder Teamspielerin?

Ich habe gute Kontakte zu den Hausärzten, die ja oft schon jahrzehntelang den Patienten versorgt haben. Wir kooperieren miteinander. Für den Hausarzt ist es sehr schwierig neben der Praxistätigkeit ständig für Palliativpatienten erreichbar zu sein. Ich finde es schön, wenn der Hausarzt und ich als Palliativmedizinerin den Patienten gemeinsam betreuen.

Außerdem ist mir die Zusammenarbeit mit den Pflegenden sehr wichtig. Es ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und als Team. Mit all unseren unterschiedlichen Kompetenzen. Jeder ist für den Patienten gleich wichtig, sei es der Physiotherapeut, die Krankenschwester oder -pfleger oder die Ehrenamtlichen. Nur alle zusammen bilden ein tragfähiges Team und können gemeinsam ein Netz bilden, damit die Patienten sich wie in einem beschützten Nest fühlen.

Wieviel Patienten besuchst Du zurzeit?

Ich betreue im Schnitt 40-50 Patienten, zuhause, im Pflegeheim oder im Hospiz.

Häufig leiden Deine Patient-_nnen an Tumorerkrankungen. Wie erklärst Du Dir, dass deutlich weniger Patientengruppen mit anderen chronischen und lebensverkürzenden Erkrankungen oder auch behinderte, ältere sterbende Menschen zu Deinen Patient_innen bzw. denen Deiner Kolleg_innen gehören?

Bei Krebserkrankungen haben wir in der Regel eine zeitliche Vorstellung über die begrenzte Lebenserwartung, das ist bei vielen anderen Erkrankungen, besonders bei Herz-, Nieren- oder Lungenerkrankungen oft nicht so. Diese Erkrankungen können sich zum Teil über Jahre erstrecken. Zum anderen unterscheiden wir zwischen der allgemeinen und speziellen Palliativmedizin. Ein alter Mensch, der sein Leben langsam aushaucht, ohne Schmerzen oder andere schwerwiegende Symptome, braucht keinen spezialisierten Palliativmediziner, sondern kann gut durch seinen Hausarzt versorgt werden. Die spezialisierte Versorgung ist für die Patienten, die unter schwerwiegenden Symptomen wie Schmerzen, Blutungen etc. leiden und unter anderem eine 24stündige Krisenintervention benötigen.

Du lernst die Patient_innen ja meist zu Hause kennen. Welche Bedingungen brauchst Du als Ärztin, um Patient_innen dort zu versorgen? Was war die größte Herausforderung als Ärztin, der Du Dich stellen musstest?

Ich kann eigentlich keine Bedingungen stellen, weil ich mit dem zurecht kommen muss, was ich vorfinde. Es ist schön für alle Beteiligten, wenn es gute und unterstützende Familienstrukturen gibt. Es ist einfach schwierig, wenn Patienten alleine leben. Es gibt aber auch viele Menschen, die schon immer alleine gelebt haben und jetzt dann auch so sterben möchten. Es sind Situationen, die dann für uns auch schwer zu ertragen sind. Ich habe dann oft Angst, dass der Patient vielleicht stürzt und stundenlang auf dem Boden liegt, ohne Hilfe. Mit den Jahren habe ich gelernt auch diese Patientenentscheidung zu akzeptieren. Das nicht immer die rationale Vernunft das Entscheidende ist, sondern der Wunsch des Patienten ausschlaggebend ist. Mit meiner Ohnmacht, meinen Ängsten und Befürchtungen muss ich zurechtkommen. Ich würde mir wünschen, dass es wieder die Möglichkeit einer 24stündigen Finalpflege gibt, um die wirklich hilflose Zeit für den Patienten überbrücken zu können. Leider wurde diese Leistung schon vor vielen Jahren aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen.

Jeder Patient ist eine neue Herausforderung, weil jeder Mensch anders ist. Was für den einen richtig ist, kann für den nächsten Patienten falsch sein. Es ist immer eine ganz individuelle Therapiefindung.

Am schlimmsten ist es für mich, wenn Kinder krebskranker Eltern nicht gut aufgefangen sind, oder wir so spät in der Versorgung sind, dass wir keine guten Wege mehr bahnen können.

Probleme habe ich auch, wenn Patienten bewusst Schmerzen aushalten möchten, wenn sie Leid ertragen möchten und ich keine Möglichkeit finde, eine Vertrauensbasis aufzubauen, um diese Strukturen aufzubrechen, die ja oft in der Biographie des Patienten verankert sind. Es ist sehr selten, aber diese Patienten beschäftigen mich dann sehr.

Es kommt auch immer wieder vor, dass man so eng mit dem Patienten vertraut ist, weil man ihn einfach gerne hat und dann auch anfängt zu hadern und sich wünscht eine Wunderwaffe in der Arzttasche zu haben und trotzdem einen professionellen Kopf bewahren muss, damit man nicht anfängt unsinnige Therapien zu machen, um zu retten, was nicht zu retten ist. Letztlich sind wir auch ganz normale Menschen, mit den ganz normalen Gefühlen von Trauer, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut und der ganzen weiteren Gefühlspalette. Ich denke aber auch, wenn ich diese Gefühle nicht mehr empfinden kann, dann muss ich mit meinem Beruf als Palliativmedizinerin aufhören. Dann kann ich auch nicht mehr empathisch sein.

Wann kommt der Punkt, an dem Du sagst. Nee, hier ist Schluss. Zu Hause, das geht nicht mehr! Oder anders: Wann empfiehlst Du Patient_innen den Weg ins stationäre Hospiz?

Ich hoffe nicht, dass ich Patienten mit dieser Entscheidung unter Druck setzte. Ich akzeptiere die Entscheidung des Patienten, auch wenn ich anders entscheiden würde. Ich bin die Beraterin und wir entscheiden gemeinsam. Die Entscheidung für ein Hospiz kann viele Gründe haben. Manchmal braucht man einfach die Pflege rund um die Uhr, manchmal sind Angehörige über die Monate hinweg so ausgelaugt und können die Pflege nicht mehr leisten. Manchmal verursacht das Leben alleine zuhause auch große Ängste und man braucht die Sicherheit, die ein Hospiz auch geben kann. So bunt wie das Leben so bunt sind auch die Gründe sich in einem Hospiz besser als zuhause zu fühlen.

Ändert sich das Verhältnis zu Patient_innen und deren Angehörigen, wenn Du nicht mehr zu ihnen nach Hause kommst, sondern sie im Hospiz besuchst?

Der Kontakt im Zuhause des Patienten ist enger und intimer. Man erfährt mehr von dem Menschen, der nun zum Patient geworden ist. Man redet über alles. Im Hospiz ist dieses Reden auf mehr Schultern verteilt, sodass sich der Kontakt, den der Einzelne hat, lockert.

Welche Rolle spielt die Pflege von sterbenskranken Menschen? Welche Rolle spielen ehrenamtliche Mitarbeiter_innen des Hospizes?

Es gibt keine gute Palliatimedizinische Versorgung ohne diese beiden Stützpfeiler: Pflege und Ehrenamt. Die palliative Versorgung besteht aus drei Teilen, der medizinischen, der pflegerischen und der psychosozialen Komponente. Nur alle drei Zusammen können ein Netz bilden, indem sich der Patient sicher aufgefangen fühlt. Diese Teamarbeit mit einer guten Kommunikation untereinander ist die Basis.

Du bist schon so häufig interviewt worden, immer wieder taucht Dein Name in den Medien auf. Immer wieder erklärst Du Dich bereit, die Öffentlichkeit zu informieren über das, was unmittelbar am Lebensende möglich wird, aber auch Monate davor. Verstehst Du das als Deine Mission?

Es ist mir ein Bedürfnis den Menschen zu sagen, dass man auch gut sterben kann. Den Angehörigen zu zeigen, habt keine Angst, wir sind auch da, wir helfen Ihnen an den neuen Anforderungen zu wachsen und es zu schaffen. Ich möchte, dass immer weniger Menschen mit einem Grauen an den Tod eines Angehörigen zurückdenken. Ist das eine Mission? Ich denke nicht. Es sollte eigentlich normal sein.

Wenn eine Fee kommen und Dich fragen würde, was Du Dir für Deinen Berufsstand wünschst, wie sähe er aus dieser Wunsch?

Ich wünsche mir, dass der flächendeckende Ausbau der Palliativmedizin auch in ländlichen Gebieten forcierter vorangebracht wird. Ich würde mir dafür wünschen, dass wir Palliativmediziner kostendeckend ambulant ausbilden können.

Ich würde mir ein höheres Einkommen, besonders auch für die Pflegekräfte, wünschen bzw. eine Reduzierung der Arbeitszeit, da es eine aufzehrende Arbeit ist. Leider landen viele im Burnout. Ich denke, da sollte die Sorge um unsere Ressourcen mehr gesehen werden. Man braucht einfach länger um im Urlaub anzukommen als in anderen Berufen.

Mein Wunschkatalog ist noch viel länger. Ich wünsche mir vor allem auch weniger Bürokratismus. Ich möchte zum Beispiel ein Pflegebett oder einen Toilettenstuhl ohne tagelang auf die Bewilligung zu warten. Wer stellt sich ohne Grund so ein Möbelstück in die Wohnung?

Ich möchte, dass es eine sicherstellende Pflegestufe 2 gibt, die erst mal die Versorgung erlaubt bis der MDK die Begutachtung durchgeführt hat.