Annemarie Schäfer* lebt allein in der Gropiusstadt in Neukölln in einem mehrgeschossigen Haus. Zu ihrer Tochter hat sie keinen Kontakt, aber alle Nachbarn kennen sich untereinander und unterstützen sich gegenseitig in Alltagsangelegenheiten. Hier will sie leben, bis sie stirbt.
Vor einigen Jahren haben die Ärzte bei ihr einen Tumor diagnostiziert: Speiseröhrenkrebs. Momentan ist eine Therapie nicht erforderlich. Schmerzmittelrezepte bestellt sie per Telefon, die Medikamente bringt ein Bote. Die Diagnose der lebensbedrohlichen Krankheit ist nun schon solange her, dass Frau Schäfer ans Sterben gar nicht mehr denkt.
Seit einem Aufenthalt im Krankenhaus kommt jeden Tag ein Pflegedienst zu Frau Schäfer und hilft im Haushalt. Die Hauswirtschafterin putzt, kauft ein und kocht auch mal.
Frau Schäfer hat sich mit ihren Einschränkungen gut arrangiert und führt ein ganz zufriedenes unaufgeregtes Leben.
Einmal in der Woche kommt eine ehrenamtliche Begleiterin des Ricam Hospiz. Wir fragen uns schon: Sind wir noch die richtigen? – Aber die Ehrenamtliche kommt inzwischen aus Freundschaft. Sterben ist gar kein Thema.
Im Dezember 2013 merkt Frau Schäfer, dass sich etwas verändert hat. Sie kann nicht mehr schlucken und so auch nichts mehr essen. Ihr behandelnder Onkologe im medizinischen Versorgungszentrum stellt fest, dass der Tumor auf die Speiseröhre drückt. Mit einer kleinen operativen Maßnahme soll nun der Gastroenterologe die Enge beseitigen. Dann ist alles wie zuvor. Der Gastroenterologe wird vom Onkologen informiert und soll sich bei Frau Schäfer melden, wann sie aufgenommen werden kann.
Da es kurz vor Weihnachten ist, versteht Frau Schäfer, dass der Arzt nicht gleich anruft. Nach einer weiteren Woche ohne Essen merkt die ehrenamtliche Begleiterin, dass etwas nicht stimmt und alarmiert den Hospizdienst. Die Nachfrage beim Onkologen ergibt: der Gastroenterologe hat versäumt, den Termin anzusetzen und ihr Bescheid zu geben.
Frau Schäfer kann jetzt schon seit 3 Wochen kaum etwas zu sich nehmen.
Jetzt geht es schnell. Der notwendige Eingriff wird vorgenommen. Frau Schäfer kommt liegend und schwach ins Krankenhaus. Genauso wird sie auch wieder entlassen. Überweisungen und einige Medikamente für die nächsten Tage erhält sie mit. Alles ist getan, die gestellte Aufgabe ist erfüllt. Ist das so?
Als die ehrenamtliche Begleiterin am nächsten Tag zu Besuch kommt, ist Frau Schäfer kaum ansprechbar. Sie hatte nicht geschafft, ihre Tasche auszupacken: alle Medikamente waren noch darin. Ihr Telefon auch. Trotz der Möglichkeit zu schlucken, hat sie aus Schwäche nichts gegessen. Vier Wochen lang nun schon. Jetzt ist die Situation lebensbedrohlich. Ein Leben zu Hause ist nicht mehr denkbar. Der Hospizdienst organisiert in wenigen Stunden im Pflegeheim einen Platz. Die Hospizärztin übernimmt die medizinische Versorgung. – Aber es ist zu spät. Drei Tage später stirbt Frau Schäfer.
*Name von der Redaktion geändert