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Kein sterbender Patient, ein Papa mit Zukunft!

Silvios Tisch im Ricam Hospiz

Zum Weihnachtsfest gehört für mich vor allem ein schöner Weihnachtsbaum. Vor 7 Jahren kippte ich auf dem U-Bahnhof Kochstraße neben meiner Freundin einfach um. Ich wachte im Charité-Hochhaus auf und wurde dort gründlich durchleuchtet. Die Ärzte erklärten mir dann, das sei ein hirneigener Tumor. Da fiel dieses Wort: Tumor. Der Professor hat mir empfohlen, das ganze Ding rauszuschneiden. So nach dem Motto: »Was nicht mehr drin ist, kann auch nicht mehr böse werden.« Er hat dann auch gesagt, wenn wir gar nichts machen, dann habe ich nur noch ein paar Monate, aber wenn wir jetzt gleich etwas machen, dann sind die Chancen größer. Ich hatte eigentlich keine große Wahl. Ich bekam einen OP-Termin im neuen Jahr. Aber erst mal durfte ich Weihnachten feiern und wurde entlassen – am 23. Dezember.

Meine Freundin und ich wollten es uns trotzdem gemütlich machen. Also sind wir kurz vor knapp vor Heiligabend noch los, um einen Weihnachtsbaum zu organisieren. Die Tannenmärkte hatten alle schon zu, also sind wir bis hinter Spandau gefahren. Wir waren fast 2 Stunden unterwegs, um die letzte schöne Tanne zu kaufen. Meine Freundin war ziemlich bedrückt. Sie war frisch verliebt und nach einigen schlechten Erfahrungen war ich wohl endlich der Mann, der ihrer Meinung nach gut zu ihr passte. Und dann gleich wieder so etwas, so eine Krankheit. Also haben wir versucht, Weihnachten so normal wie möglich zu feiern. Wir haben den Tannenbaum ins Auto geschmissen – damals war die Rückbank noch frei und nicht belegt von Kindersitzen – und sind in Richtung Heimat gefahren, zu meiner Wohnung.

Dort angekommen, haben wir uns dann beide angeguckt: Mensch! An den Baum muss ja noch etwas drangehängt werden! Weder sie noch ich hatten in unseren Singlehaushalten Weihnachtsdeko zu Hause. Also zurück nach Spandau zu IKEA. Dort haben wir uns dann mit Baumschmuck eingedeckt. Die Weihnachtskugeln haben wir heute noch. Das war unser Last-Minute-Weihnachten. Die Krankheit habe ich ausgeblendet. Im Januar wurde ich dann zum ersten Mal operiert und kurz darauf gleich noch einmal. Im selben Jahr wurde ich Vater. Meine Frau hatte mir regelmäßig Ultraschallbilder mitgebracht, Sie sagte: »Guck da hin, du hast eine Zukunft! Denk an dein Kind und halte durch, egal was passiert!« Für die Ärzte und Krankenschwestern war ich nicht mehr nur ein sterbender Patient, sondern ein zukünftiger Papa.

Plötzlich waren die Krankenschwestern auch viel netter und haben immer nachgefragt: »Und wie geht es dem kleinen Zwerg?« Die meisten Krankenschwestern waren Mütter. Man hatte ein schönes Gesprächsthema, und das hat viele schlimme Gedanken verdrängt. Nach der ersten OP war ich ziemlich schnell wieder fit. Die Aussichten waren also gut. Ende Februar konnte ich schon wieder alleine raus gehen. Zu Hause war ich dann eine Zeitlang krankgeschrieben. Und wollte dann aber wieder arbeiten, was auch mein Arzt befürwortete. Die Kollegen und der Chef hatten nichts einzuwenden, da sie dringend Leute brauchten. Doch schnell gab es dann doch Zwist, denn ich bin um 10 gekommen, aber schon 14 Uhr wieder gegangen. Das passte dort anscheinend nicht ganz ins allgemeine Arbeitsbild. Ich galt als faul. Mehr habe ich aber nicht geschafft.

Ich war ein atypischer Mitarbeiter. Außerdem gab es dann finanzielle Schwierigkeiten in der Firma, der Investor wollte nur dann Geld nachschießen, wenn man irgendwo Geld einspart und der erste Hebel ist eben immer Personal. Irgendwie kam dann auch mein Name mit auf die Liste, was viele verwundert hat, denn eigentlich war ich fast schon unkündbar. Ich hab mir aber gesagt: Bleib mal ruhig, mal sehen was sie dir für ein Angebot machen. In meiner Vorstellung würde ich eine ordentliche Abfindung bekommen, mein damaliger Chef schrieb mir dann jedoch eine Zahl auf, die war so was von lächerlich, dass wir eigentlich beide fast schon drüber lachen mussten…

Doch lustig war es nicht, denn der Chef setzte mich unter Druck mit E-Mails an alle Kollegen: »Es müssen bloß noch Abfindungen mit zwei Mitarbeitern abgeschlossen werden, dann ist die Firma gerettet und wir gehen nicht pleite.« So wurde die ganze Firma unter Druck gesetzt, es wurde nicht mehr diskret gehandelt, stattdessen hieß es immer: »Na dann sollen doch die zwei endlich unterschreiben, ihre Abfindung nehmen und gehen. Damit hätten wir alle einen sicheren Arbeitsplatz.« Dem Druck habe ich nicht standgehalten. Im Endeffekt haben mein Anwalt und die Firma eine ganz gute Lösung finden können, die für alle zufriedenstellend war, und ich konnte erfolgreich meinen Arbeitsplatz wechseln. Und dann kam Jonas, unser Sohn. Das erste Weihnachtsfest mit Kind. Wir holten natürlich wieder einen Weihnachtsbaum, kleine Geschenke, nichts großes, denn als junge Familie ist ja das Geld immer knapp. Das schönste Geschenk war ja ohnehin, dass ich mit meiner Krankheit überhaupt die Geburt meines ersten Sohnes miterleben durfte. Mit Kind wurde aber alles etwas stressiger, vor allem für mich. Ich brauchte immer viel Ruhe, meinen Mittagsschlaf. Und auch nachts durchgehend zu schlafen, war mir wichtig. Das war jedoch nicht immer möglich, deswegen war ich ziemlich oft gereizt und nervös. Aber wir haben eben das Beste draus gemacht.

Als Jonas dann in den Kindergarten kam, kehrte im Berufsleben auch wieder mehr Alltag ein. Und das Geschwisterkind, Lukas, war dann eine logische Konsequenz und gab noch mehr Hoffnung. Und obwohl ich jetzt im Sommer sogar die Einschulung von Jonas miterleben durfte, kam der Einzug ins Hospiz schneller als gewünscht.

Ich hatte versucht wieder normal zu arbeiten, bin von einem Job zum nächsten gewandert und habe auch immer relativ schnell etwas Neues gefunden, weil sich mein Lebenslauf, durch die Berufserfahrung, die ich mitbrachte, trotz allem immer gut las. Einmal erlitt ich während der Arbeitszeit einen epileptischen Anfall, woraufhin ich dann wieder schnell ins Krankenhaus musste. Bei einer der Nachuntersuchungen im August 2012 war leider auf den MRT Bildern wieder ein Kontrast in der Aufnahme zu sehen. Der Krebs war wieder da. Nachdem wir die letzte Chemotherapie absetzen mussten, weil die nicht mehr gewirkt hat, hat mein Neurochirurg gesagt: »Ok, sieht nicht gut aus. Nur noch drei Monate.«

An dem Wochenende danach waren wir mit den Kindern unterwegs. Ich war schon wieder zu Hause und meine Frau wollte noch einmal zum Auto, um ein paar Sachen zu holen. Genau in dem Augenblick hatte ich einen leichten epileptischen Anfall, und die Kinder waren dabei. Jonas hat zum Glück genau das gemacht, was wir ihm für diesen Fall gesagt haben: Nimm deinen kleinen Bruder, geh raus aus dem Zimmer, der muss das nicht mit angucken. Das hat er auch gemacht. Er hat seinen kleinen Bruder an die Hand genommen: »Komm Lukas, wir müssen mal kurz raus gehen.« Ich habe mich wieder aufs Sofa legen können und bin einfach still liegen geblieben, bis das Schlimme an dem Anfall vorbei war. Es war nichts dramatisch Schlimmes, aber es war eben für mich diese gefühlte Hilflosigkeit, nicht einmal zum Telefon greifen zu können, dass man bei der Krankheit einfach so machtlos ist und ich meine Kinder vor mir selbst schützen musste.

Meine Frau hatte sich schon rechtzeitig Hilfe für die Kinder geholt, über den Jugendverein »Kids im Dialog« und über die Charité. Die haben da auch einen speziellen Bereich »Hilfe für Kinder mit krebskranken Eltern«. »Kids im Dialog« sind hier in derselben Straße wie das Ricam Hospiz. Die arbeiten bereits gut zusammen. Dadurch hatte meine Frau die Adresse von hier. Also haben wir hier angerufen und einen Gesprächstermin ausgemacht mit der Koordinatorin Mechthild Schindler. Die war dann mal einen Tag bei uns zu Hause, hat uns das stationäre Hospiz kurz vorgestellt und auf die Frage hin, ob sie für uns schon einmal eine Reservierung vorsorglich ausfüllen soll, habe ich relativ spontan gesagt: »Ja.« Bevor wir es wieder verdrängen und verschieben und dadurch irgendwie zu spät dran sind, habe ich einfach schnell ja gesagt. Und schon am nächsten Morgen kam der Anruf, hier wäre ein Platz frei geworden. Ich habe dann aber darauf bestanden, dass ich mir das vorher wenigstens einmal persönlich anschauen kann, denn Bilder hin oder her, die bringen nicht den Eindruck rüber, wie es wirklich ist. Worauf muss man sich einstellen? Was muss man selbst mitbringen? Bettwäsche? Handtücher? Ist ja alles schon da. So sagten wir dann einfach: »Ok. Wenn das Zimmer frei ist, dann ja, dann nehmen wir es auch.« Dadurch bin ich relativ schnell eingezogen und habe mich recht schnell zu Recht gefunden. Meiner Frau geht es ganz gut damit, dass ich im Hospiz bin. Sie muss sich jeden Tag weniger Sorgen machen, ob es mir gut geht oder ob mir nicht irgendetwas im Laufe des Tages passiert ist. Sie weiß genau, wenn es mir nicht gut geht, hier ist sofort jemand da. Das ist zu Hause nicht gegeben. Bis sie reagieren kann, wenn etwas ist und bis sie von Arbeit los kommt, dauert es auch erst einmal. Und wer nimmt die Kinder in der Zeit, wo sie mit mir zum Arzt fährt?
Man findet im Hospiz immer jemanden zum Sprechen. Hier haben ja alle das gleiche Problem. Woanders, in der Arbeitswelt, da distanzieren sich alle und wollen nicht daran denken, dass es so etwas gibt und dass sie so etwas selbst mal erleiden könnten. Man ist immer erst einmal ausgegrenzt. Hier spricht man richtig offen darüber. Darüber, ob man für alles vorgesorgt hat: Testament, Nachlassverwaltung. Sachen, an die man erst einmal gar nicht denkt. Bankvollmachten. Damit für die Angehörigen das Leben weiter gehen kann. Gespräche darüber, wie man beerdigt werden will, damit die Angehörigen mit Sicherheit Aussagen treffen können, wenn es so weit ist: der letzte Wille war… Ich will nach dem Tod verbrannt werden. Verbrannt. So nach dem Motto: Im letzten Moment habe ich es dem Tumor doch noch gegeben. So als kleine Genugtuung. Aber erst einmal feiern wir Weihnachten.

Für dieses kommende Weihnachtsfest wünsche ich mir wieder einen schönen Weihnachtsbaum. Ich werde wieder in meiner Familie feiern, mit meiner Frau und unseren Kindern. Wir werden hier in Berlin bleiben, ein paar Tage nach Hause gehen in unsere schöne Wohnung, die wir erst letztes Jahr bezogen haben. Sicher, es könnte mein letztes Weihnachten sein. Aber das war die letzten Jahre schon so. Es könnte immer das letzte Jahr sein. Für jeden von uns.