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Hinterbliebene erzählen: Der Schild der Athene

Ein Gespräch mit Renate Siebecke

lz: Frau Siebecke, was waren die ersten Anzeichen der Krankheit Ihres Mannes?

Mein Mann war 41 Jahre lang Sportlehrer und entsprechend beweglich und fit. Eines Tages blieb er bei uns zu Hause mit dem Fuß an den Teppichfliesen hängen. Da merkte ich, dass sein rechter Fuß nicht mehr so beweglich war. Nach vielen Untersuchungen im Krankenhaus bekamen wir die Diagnose: Glioblastom. Als er dann nach dem langen Krankenhausaufenthalt nach Hause kam, war das Schlafzimmer in der ersten Etage unseres Häuschens für ihn unerreichbar. Diesen Abbau seiner Beweglichkeit hat er noch ganz bewusst erlebt. Wir haben die Essecke leer geräumt, stellten dort das Pflegebett und den Toilettenstuhl hin. Dann haben wir einen Treppenlift über drei Ebenen eingebaut,- und dass er noch einmal in die oberen Stockwerke konnte, das war für ihn das Größte! An der Wand, an der er hoch fuhr, hingen viele Fotos von den Ländern, in die wir gereist sind, – das hat er sich stundenlang angeschaut.

lz: Das klingt ein bisschen so, als hätte er auf diesem Treppenlift sitzend sein Leben Revue passieren lassen. Haben Sie in dieser Zeit begonnen, voneinander Abschied zu nehmen?

Damit habe ich schon im Krankenhaus begonnen. Wir sind fast 52 Jahre glücklich verheiratet gewesen. Er war neun Monate krank, und ich war jeden Tag bei ihm; habe nicht einen Tag aussetzen können. Während dieser ganzen Zeit habe ich immer Fotos gemacht. Ich habe sie mir nie angeschaut, ich weiß nicht warum, aber ich habe immer weiter fotografiert. Manchmal habe ich gar nicht mitbekommen, wie schlimm es mit ihm bergab ging. Nachdem er verstorben war, habe ich mir die Fotos ausdrucken lassen und sie angeschaut; ich war erschüttert. So hinfällig hatte ich meinen Mann nie wahrgenommen.

(C) Sibylle Baier

lz: „Einer großen Gefahr schaut man nicht direkt ins Auge“, heißt es. Aus der griechischen Mythologie kennen wir die Erzählung von Medusa. Der Held Perseus blickt beim Kampf in den spiegelblanken Schild der Athene und schaut nicht direkt auf die Medusa, denn er würde ja sonst versteinern. Sie haben offenbar etwas ganz ähnliches getan: Sie haben durch die Kamera geschaut und die Bilder erst in dem Moment angesehen, als sie Ihren Mann betrauern konnten, in einer Situation, in der Sie nicht mehr für ihn sorgen mussten.

Ja, ein wenig war es so. Als er dann verstorben war, da hab ich sein Foto bei mir zu Hause in jeden Raum mitnehmen müssen. Ich hab mit ihm gesprochen, das war ganz eigenartig. Durch dieses Bild war er irgendwie bei mir. Das hat mir unheimlich geholfen. Und wenn ich allein war, hab ich ihn auch nach seiner Meinung gefragt. Wissen Sie, wenn man über 50 Jahre lang mit einem Menschen gelebt hat, dann hat man so vieles geteilt. Ich kam mir nur noch wie ein halber Mensch vor. Gerade was Technik oder das Haus betraf, – ich hab zum ersten Mal unsere Rollos programmiert, und ich hatte auch gar keine Geduld, mich mit dieser Technik zu
beschäftigen. Daraus entstanden dann solche Ängste, dass ich das allein nicht schaffe. Und da hab ich dann einfach mit ihm gesprochen und ihn gefragt, wie er das gemacht hat.

lz: Und das Fragen hat Sie ein wenig entlastet?

Ja.

lz: Was sagte denn Ihr Umfeld dazu, dass Sie mit einem Foto sprechen?

Wenn meine Freundin und ihr Mann da waren, die haben das so geduldet, aber andere Freunde wollten das nicht. Im letzten Sommer habe ich unseren Enkelsohn eine ganze Woche bei uns gehabt, und der hat genau gesehen, dass ich das Bild immer mitnahm, in die Küche, ins Arbeitszimmer, – und er hat nichts gesagt. Am letzten Tag, als ich ihn dann wieder zu seinen Eltern fuhr, da sagte er „Omi, musst du das Foto von Opi immer mitnehmen?“ und ich sagte, „Ja, das tut mir gut, der ist immer dabei“. Und da sagte er „Aber Opi ist doch in deinem Herzen“. Er hatte recht. Und dann hab ich das einfach gelassen.

lz: Sie haben Ihren Mann lange zu Hause gepflegt, gestorben ist er aber im stationären Hospiz…

Wissen Sie, ich hatte keine Ahnung von den vielen Dingen, die man zur Pflege braucht. Da hat mir Karla Fest vom ambulanten Hospiz sehr geholfen. Wenn ich manchmal verzweifelt war, dann sagte mein Mann: „Renate, frag Karla Fest, die weiß Rat“. Aber dann wurden die epileptischen Anfälle immer schlimmer. Dann sagten alle, unser Hausarzt, die Home-Care-Ärztin und Karla Fest: „Frau Siebecke, das schaffen Sie nicht mehr, da gehen Sie eher zugrunde als Ihr Mann“. Ich hatte deutlich abgenommen und konnte nicht mehr schlafen, weil die Nächte das Schlimmste waren. Die Tage habe ich wirklich gut gepackt, aber die Nächte waren schrecklich.

lz: Waren Sie in der Sterbestunde bei ihm?

Ja, es war am 12. Januar 2011. Er hatte an diesem Tag zwei epileptische Anfälle. Nach dem zweiten Anfall beschloss ich, bei ihm zu bleiben. Ich habe ihn dann gestreichelt und ihm was erzählt, und dann merkte ich, dass er immer schwächer atmete. Und dann hörte plötzlich die Atmung auf. Und ich schrie: „Günter, hol Luft,
hol Luft, du musst atmen!“ Die Schwestern waren dann gleich da, und ich schrie immer noch, obwohl es doch eigentlich eine Erlösung für ihn war. Aber ich hab das nicht begriffen. Mein Sohn kam später dazu und schrie mich an: „Mutti, hör auf zu schreien, Vati ist tot, er kommt nicht zurück!“ Da erst habe ich das richtig mitgekriegt, und dann habe ich aufgehört. Das war, als ob ich aus einem Traum wach werde. Die Schwestern fragten, was sie ihm anziehen sollten. Seit Wochen hatte ich seine Lieblingskleidung schon im Schrank. Wir warteten vor dem Zimmer und wurden dann hinein gebeten. Wissen Sie, wie herrlich das war? Kerzen über Kerzen brannten, er lag ganz ruhig flach im Bett, und die Schwester hatte Rosenblätter verstreut und unsere Bilder auf ihn gelegt. So was Schönes! Das hat so gut getan. Mein Sohn hat dann noch fotografiert. Ich habe mir die Bilder jetzt lange nicht angeguckt, aber so wie ich den Raum wahrgenommen habe, war es wie Balsam für meine Seele, das war eine Erlösung. Dass er nun endlich die Ruhe hatte, die er verdiente.

lz: Für seine letzte Ruhestätte haben Sie ein einzigartiges Grabmal gesetzt…

Nach seinem Tod nahmen mich meine Kinder eine Woche lang mit in den Winterurlaub. Sie sagten „Mutti, du kommst mit. Du sitzt zu Hause nur rum und heulst; das hilft nichts. Du musst raus“ Das Hotel, in dem wir waren, kenne ich, seitdem es gebaut worden ist, und mein Mann sagte immer: „Das Gasteinertal ist unsere zweite Heimat“. Ich wollte so gern etwas von dort haben für sein Grab. Wir kennen dort eine Künstlerin, die Steine bemalt. Und als ich zu ihr kam, sagte sie: „Ich hab vier Steine vom Gletscher“, und ich habe mir einen davon ausgesucht. Das ist Gletschergranit, den sie im Sommer von dort herunter geholt hat, der sieht aus wie der Großglockner, und in der Spitze ist eine Quarzader, weiß wie Schnee. Ich hatte Fotos von den Händen meines Mannes mit und diese Hände hat sie auf den Stein gemalt; dazu seinen Namen und sein Geburts- und Sterbedatum. Und am letzten Tag haben wir den Stein bei ihr abgeholt und gleich mitgenommen.

lz: Dieser Grabstein fällt bestimmt auf…

Ja (lacht), der ist schon vielen aufgefallen.

lz: Dann sind Sie oft auf dem Friedhof?

Am Anfang oft, jetzt eigentlich weniger, meist einmal in der Woche. Knapp sieben Monate nach dem Tod meines Mannes habe ich am übernächsten Grab einen Mann trauern gesehen. Er betete und war sehr traurig… Drei Wochen später war er wieder da, und dann haben wir uns fast jede Woche gesehen und über unsere beiden Ehepartner gesprochen, und über Reisen, und was wir so miteinander unternommen haben. Und als ich mal wieder meiner Schwiegertochter erzählte, dass wir uns dreieinhalb Stunden auf dem Friedhof unterhalten haben, fragte sie, „Müsst Ihr Euch ausgerechnet auf dem Friedhof unterhalten, habt Ihr wenigstens eine Bank gefunden?“ „Nö“, sagte ich, „wir stehen immer an den Gräbern“. Und meine Schwiegertochter sagte dann, dass man durchaus auch bei einer Tasse Kaffee oder einem Gläschen Wein über frühere Zeiten reden könne. Das haben wir dann auch getan, und so sind wir uns dann immer näher gekommen, und inzwischen wohnen wir zusammen.

lz: Sie haben also über die Trauer um ihren Mannes einen neuen Lebensgefährten gefunden…

Ja. Und wir sagen immer: „Unsere beiden da oben und der liebe Gott, die wollen jetzt, dass es uns gut geht“. Er hat drei Jahre seine Frau gepflegt und auch Schlimmes durchgemacht. Jeder hat mal einen Tiefpunkt, und wir können uns da so ungemein gut trösten. Ich hätte das niemals geglaubt,- ich war so glücklich mit meinem Mann. Aber wissen Sie, die Zeit ist vorbei; ich hab’s begriffen. Nach dem Tod meines Mannes hatte ich keinen Mut mehr zum Leben. Ich habe krampfhaft überlegt, wie ich meinem Leben ein Ende mache. Dass ich nun einen Lebensgefährten gefunden habe, das ist ein Geschenk. Das ist ein unglaublicher Zufall: nicht gesucht,
aber gefunden.

lz: Vielen Dank für dieses Gespräch, Frau Siebecke.