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Hinterbliebene erzählen: Eine grosse Stütze waren meine Bücher

lz: Herr Kunze, wie haben Sie damals erfahren, dass Ihre Frau unheilbar krank ist?

Ursula hat immer mal gehüstelt, vielleicht einmal am Abend, so dass man weiter nichts darauf gegeben
hat, und dann sagte sie: „Ach weißt du, ich möchte gern nochmal an die Ostsee“. Wir sind dann nach Heringsdorf gefahren und haben dort ihren Geburtstag gefeiert. Als wir wieder heimkamen, ging das Hüsteln wieder los, und ihr behandelnder Arzt sagte „Ich schicke Sie mal zum Spezialisten“. Und dann sind wir nach Neukölln zum Spezialisten gefahren, der uns ins Krankenhaus überwies. Dort wurde der Tumor festgestellt, zwischen Herz und Lunge – nicht erreichbar.

lz: Das war sicher ein großer Schock…

Ja. Der Stationsarzt im Krankenhaus sprach von höchstens einem Jahr als Lebenserwartung. Und der Arzt, der zu Hause meine Frau behandelte, sagte, es würde nicht mal mehr einen Monat dauern. Ich habe mich dann mit den ganzen Folgen dieser Krankheit befasst, und ich habe mir gesagt, wenn ihr tatsächlich nur noch ein Monat bleibt, dann soll sie ganz in Ruhe und ohne Schmerzen sterben.

lz: Ihre Frau wusste also, dass die Ärzte nichts mehr für sie tun können? Ja, sie kannte den Verlauf von ihrer
Mutter, bei der die Krankheit auch ziemlich rasch zum Tode geführt hatte. Und als meine Frau ins Hospiz kam, wusste sie auch, wie es um sie stand. Sie bekam dort ein Einzelzimmer, was mich sehr gefreut hat. Man sagte mir, dass ich auch dort übernachten könne. Sie würden mir dann ein Bett in ihr Zimmer stellen, ich könne aber auch im Gästezimmer übernachten, ich könne sogar dort mit essen… Alle waren sehr warmherzig. Etwas Besseres hätte mir in meiner Lage gar nicht passieren können. Ich war froh, dass ich die letzte Zeit mit meiner Frau dort verbringen konnte.

lz: Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?

Der Tumor hatte schon Metastasen im Gehirn gebildet. Und meine Frau war schon recht verwirrt. Sie äußerte Dinge, die zum Teil sogar in Schmähungen ausfielen. Das war für mich sehr schwer zu ertragen.

lz: Waren Sie dabei, als sie starb?

Am Abend davor riet mir die Schwester, nach Hause zu fahren, um mich auszuruhen, und sagte: „Wir rufen Sie an, wenn sich etwas ändert.“ Morgens gegen 5 Uhr kam dann ein Anruf: „Ihre Frau ist verstorben“. Im Hospiz fragten sie mich, was sie anziehen solle. Das fand ich gut. Alle haben sich anschließend diskret zurückgezogen. Ich war dann mit meiner Frau allein. Und dann merkte ich, dass sie verstorben war, dass ich sie nicht mehr in den Arm nehmen konnte. Und dann kam Schwester Gerlinde, die sagte: „Junge, komm mal her“, dann hat sie mich in den Arm genommen, und da kamen zum ersten Mal Tränen.

lz: Wie haben Sie die Trauer erfahren?

Als ich in der Wohnung saß, fragte ich mich: „Wie soll’s denn jetzt weiter gehen?“ Jedes Stück, das man in die Hand nimmt, erinnert daran, dass man es zusammen geschaffen hat: die Schrankwand, der Fernseher, die Waschmaschine… Das sind alles Erinnerungen. Ganz oft dachte ich mir: Tank das Auto nochmal
voll, und der nächste Pfeiler von der Brücke ist deiner… Ich hatte starke Depressionen.

lz: Waren Sie denn beim Arzt wegen der Depressionen?

Ich habe das selber geschafft, aber ich war auch nah dran, zum Alkoholiker zu werden. Es war wirklich schlimm. Eine große Stütze waren meine Bücher. In meinem Bücherregal stehen viele Bücher von Stanislaw Lem. Eines hat mir meine Stiefschwester geschenkt: „Die Irrungen des Dr. Stefan T.“ Daraus habe ich ziemlich viel Kraft geschöpft. Ich hab inzwischen schon viele andere Bücher mit ganz anderen Augen
gelesen und mich gefragt, warum ich früher an ihnen vorbei gehen konnte. Zum Beispiel lese ich jetzt gerade von Gogol die „Petersburger Erzählungen“. Ein Buch, das ich früher nicht in die Hand genommen
hätte. Jetzt verschlinge ich es geradezu.

lz: Wer war für Sie da, wenn es Ihnen schlecht ging?

In erster Linie mein Neffe und seine Frau. Im Nebenblock wohnt eine ehemalige Arbeitskollegin meiner
Frau, die sich auch jetzt noch um mich kümmert, die mir mal Essen bringt, wenn sie meint, sie hätte zu viel gekocht. Aber dennoch ist das Bett neben mir leer. Die Betten stehen ja noch zusammen, und man denkt: War’s das nun wirklich? Was wird nun werden?

lz: Haben Sie sich denn eine neue Partnerschaft gewünscht?

Vor ein paar Jahren hätte ich gerne eine neue Frau finden wollen, aber jetzt möchte ich lediglich noch einmal
einen Menschen haben, mit dem ich mich gut verständigen kann. Nun wage ich den Schritt, auch das Schlafzimmer zu verändern. Das muss jetzt sein. Ich hatte auch eine andere Frau kennengelernt. Als sie zum ersten Mal bei mir war, da habe ich mich gefragt: „Willst Du es wirklich?“ Sie könnte meine Tochter sein. Sie ist 63 Jahre alt und ich werde 91! In meinem Alter kann jeder Tag der letzte sein, und dann habe ich mich gefragt, ob ich dem anderen diese Trauer, diese Last noch aufbürden muss? Inzwischen sind wir gute Freunde und haben ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufgebaut. Und das ist auch ganz gut so. So lebt jeder sein Leben.

lz: Herr Kunze, vielen Dank für dieses Gespräch.