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Wieder bei Trost sein

Fallbeispiel: Die 16jährige Tochter von Herrn B. war zu Weihnachten beim Musiküben durch ein geplatztes Blutgefäß (Aneurysma) gestorben und vom Vater aufgefunden worden. Das Ehepaar B. war dann über ein Jahr in meiner Begleitung. Heute – 4 Jahre danach – führen sie ein gutes Leben, wenngleich es immer noch heftige Trauerschübe gibt. »Als meine Tochter tot war, bin ich Monate lang von Pontius zu Pilatus gelaufen, um irgendwo Hilfe zu bekommen. Aber alle waren überfordert oder hatten keinen Platz, oder keine Ahnung. Niemand konnte mir helfen. Ich war meinen Gefühlen ausgeliefert. Mein Arbeitgeber hat mir erst gesagt, ich soll zuhause bleibe, solange ich wollte. Aber ich wollte ja gar nicht, ich wollte arbeiten, mich ablenken. Ich fühlte mich mitschuldig, weil ich mein Kind nicht habe beschützen können. Weil ich es zum Trompete üben gedrängt hatte. Vielleicht war der Druck beim Blasen zu groß. Als es mir dann nach einem Jahr besser ging, brach meine Frau fast zusammen, und meine andere Tochter. Um denen beizustehen, habe ich mich fünf Wochen krankschreiben lassen. Irgendwann später waren wir alle drei nicht mehr zu gebrauchen, nur Weinen, Angst, dass noch mal so etwas passiert, aggressiv waren wir auch. Die Ehe ist beinahe gekracht. Ich kannte mich nicht wieder, fand mich nicht mehr zurecht. Und dann tauchten wie aus heiterem Himmel noch die anderen Toten auf: meine Mutter vor vier Jahren, mein Bruder vor 18, gerade so, als sei es erst ein paar Wochen her. Ich konnte nicht mehr schlafen und mich bei der Arbeit nicht mehr konzentrieren und auch am Bau nichts mehr leisten. Meine Kollegen meinten, nun müsse es aber doch langsam mal gut sein. Mein Hausarzt hat mir starke Beruhigungstabletten verschrieben, weil er meine Trauer übertrieben fand und dass es schon chronisch wäre – so hat er das gesagt. Aber dadurch wurde ich erst richtig einsam und ohne irgendwelche Energie, traute mir nichts mehr zu und versackte richtig.«

Seit sich auch die Forschung mit Trauer befasst, weiß man besser, wie wirksam Trauerbegleitung ist. Es gibt Theorien, die die Wirksamkeit in Frage stellen, und wiederum andere, die behaupten, alles helfe, wenn die Beziehung zwischen der Trauernden und der Begleiterin nur stimme. Was bedeutet „Hilfe in der Trauer“ für einen trauernden Menschen? Sicher nicht, dass die Trauer zügig durchgearbeitet und beendet wird und „der Trauernde in einem hohen Maße den Verstorbenen hinter sich lässt und sich von den Gefühlen an ihn löst“, wie es Freud verlangte. Sicher auch nicht, dass sehr schnell alle Symptome ein für allemal verschwinden, wie Schlafstörungen, Verspannungen, Konzentrationsschwierigkeiten, starke Sehnsucht, Niedergeschlagenheit etc. Eine Begleitung mit dieser Zielsetzung wäre tatsächlich wirkungslos.

Was können Beratung und Begleitung bewirken? Eine repräsentative nichtklinische Studie mit 73 Personen nach dem Tod eines nahen Angehörigen von ALPHA Rheinland (2001 – 2007) hat ergeben, dass allerdings sehr wohl eine Änderung durch Begleitung geschieht, nämlich in der Einstellung und in persönlichen Glaubenssätzen. 58% der Befragten, von denen die meisten Frauen zwischen zwischen 59 und 69 Jahren waren, gaben an, dass sich bereits nach 12 Wochen der Begleitung ihrer Trauer das dauernde Grübeln, die ständige Vorstellung des eigenen Versagens, die Apathie und der soziale Rückzug, der zu Beginn des Trauerprozesses einen tiefen Sinn hatte, deutlich weniger geworden sei. Besonders wichtig war ihnen die Feststellung, dass sie auffallend weniger hart mit sich ins Gericht gingen und nicht mehr glaubten, die Kontrolle wahren zu müssen und sich an niemanden wenden zu dürfen. Das führte dazu, dass sie sich wieder wichtiger nahmen, ein höheres Selbstwertgefühl beschrieben und zum Beispiel wieder sorgfältiger waren beim Aussuchen und Zubereiten von Nahrungsmitteln, bei der Einnahme von Medikamenten und Arztbesuchen und ihre Diäten seltener vernachlässigten. Und dass ihre Scham abgenommen habe, dass ihnen dieser Verlust widerfahren sei. Auch nähmen sie nicht mehr solch große Rücksicht auf andere, das heißt, dass ihr Ich stärker wurde. Über zwei Drittel der Befragten betonte, dass sie im Laufe der Gespräche einen Zugang zu ihrer Trauerreaktion bekämen[…]Eine TeilnGesprächen nach seinem Tod setzte ich mich selber wieder neu zusammen, meinen Charakter, meine Rollen, meine Biographie, meine Identitäten, mein Selbstvertrauen und meinen Selbstwert.“
Diese Bewegungen und Veränderungen in den Einstellungen förderten auch die Bereitschaft, nach vorne zu schauen und sich um die Zukunft zu kümmern, statt nur zurück und ausschließlich auf den erlittenen Verlust. Das mitfühlende Zuhören und Nachfragen, die Erlaubnis und der Respekt, die Vorgabe stützender Strukturen und Regeln und der Austausch von Erfahrungen (in der Gruppe) haben nachweislich diese Bewegung gefördert und die Sicherheit im mühsamen Prozess der Reorganisation gestärkt.

Beratung und Begleitung verhindern, dass die Trauer erstarrt, noch stärker wird und körperliche Beschwerden auftreten. Gerade das Zulassen von Wut, Aggression, Schuld, Zweifel und Angst im eigenen Aussprechen und Annehmen der Reaktion der Begleiterin verkürzen den Ablauf und lösen Blockaden zugunsten der Weiterentwicklung. Es gilt zu verhindern, dass nicht nur die »Welt der Trauernden arm und leer geworden ist« (Freud), sondern auch das »Ich der Trauernden selbst«. Dazu braucht es in der Regel keine Therapie, wohl aber gut befähigte und vor allem in der Praxis begleitete und kompetente Personen. Beratung und Begleitung sollte solange stattfinden, bis der Prozess in Gang gekommen und seine Stabilität absehbar ist. Wichtig ist, dass die Berater in der Lage sind, das Trauererleben ggf. von bereits vorhandenen affektiven Störungen, zu unterscheiden und in befugtere Hände zu übergeben. Das obige Beispiel macht deutlich, dass Menschen, Patienten und Angehörige und Freunde, nicht nur in der Zeit des Sterbens Begleitung benötigen, sondern auch danach eigene Unterstützungsangebote erhalten müssen. »Meine Phantasien und schlimmen Gedanken lösten Gefühle aus, die sich auch ganz stark im Körper zeigten. Ich vermisste meine Tochter immer noch heftig, aber jetzt bin ich wieder bei Trost…« so der trauernde Vater aus dem Anfangsbeispiel
zum Ende der Begleitung.