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Die Ex-und-Hopp-Gesellschaft

Foto: Ricam Hospiz

[…] Ein guter Freund arbeitete als freier Mitarbeiter bei einer renommierten Zeitung. Er war gerade mit einem Artikel beschäftigt, als sein Chef, zwischen Tür und Angel stehend, fast flüchtig und auf dem Sprung, allen Mitarbeitern zurief, die Produktion der Zeitung sei ab sofort eingestellt, alle könnten nach Hause gehen. Von einer Sekunde auf die andere hatten alle ihren Arbeitsplatz verloren. Die Ursache-Wirkungs-Faktoren, die das ganze Gebilde zusammenhielten, flogen auseinander. Die Zeitung war von diesem Moment an von der Bildfläche der deutschen Printmedien verschwunden.
Eine Naturkatastrophe, ein Unfall, der plötzliche Tod eines lieben Menschen können unser Leben von einer Sekunde auf die andere verändern, vermeintliche Sicherheiten lösen sich auf; das Unberechenbare bricht in unser Leben ein, und wir erleben großes Leid. Die Menschen in Haiti, die nach dem schweren Erdbeben im Januar 2010 viele ihrer Angehörigen verloren und alles Hab und Gut, standen vor dem Nichts, ohne Essen und Trinken. Sie waren mit dem Leben davongekommen, wurden später aber noch von Unwettern und Seuchen wie der Cholera heimgesucht. Ihre Not und ihr Leiden sind unermesslich. Wenn wir Bilder aus Katastrophengebieten sehen, wird uns deutlich, wie zerbrechlich diese Existenz und wie wertvoll und kostbar das Leben ist. Das Elend der Menschen dort vermag auch den Blick auf unser eigenes Leiden, z.B. bei der Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung, zu relativieren. In unserer Gesellschaft leben die allermeisten von uns in einer geschützten und sozial gesicherten Umgebung. Doch auch bei uns geht es jeden Tag um das Loslassen von vermeintlichen Sicherheiten. Dieses Loslassen wird für uns leichter, wenn wir flexibel reagieren, den Blick nicht nur auf unser persönliches Leiden ausrichten, sondern unsere Perspektive erweitern und eine Haltung des Annehmens entwickeln. Dann werden wir biegsam wie ein Bambus und können vielleicht ab und zu ein Tänzchen mit dem Wandel wagen. Das Abschiednehmen gehört unabwendbar mit zu diesem Prozess. Wem es gelingt, die Dinge und Entwicklungen so anzunehmen, wie sie sind, ohne Widerstand und mit ganzem Herzen, der entwickelt eine Sicht, die immer mehr von Gelassenheit, Humor und innerer Freiheit geprägt wird. Dann nehmen wir ganz natürlich Abschied, wenn sich Dinge, Beziehungen, Strukturen auflösen. Eine solche Geisteshaltung,die kommen und gehen lässt, was geschieht, bei der die ungeteilte Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment ruht, ermöglicht Befreiung. Erleuchtete Wesen wie der Buddha haben sie verwirklicht und gelehrt, wie auch wir uns vom Leiden befreien können. Genau wie der Buddha können auch wir in unserem Geist den Samen für die Befreiung legen. Damit verändert sich unsere Haltung zum Leiden, auch zu Krisen, und Abschiede fallen uns nicht mehr so schwer.

Beim Abschiednehmen können wir sowohl unsere Anhaftung an Vergangenes als auch unsere Abneigung auflösen. Darum ist es befreiend, sich bewusst zu verabschieden. Wir spüren unsere Traurigkeit, vielleicht auch Wut oder Verzweiflung, Neid, Stolz, Wehmut, den Aufruhr der Gefühle, erleben unsere Bedürftigkeit, unsere Verletzlichkeit, das Aufbegehren sowie Widerstände und überwinden sie. So entlassen wir die zurückgebliebenen Spuren des Alten, die unsere weitere Entwicklung behindern. Am Ende des Prozesses steht eine Katharsis, die innere Reinigung, das Abwerfen von Ballast. Wir können danach wieder aus dem Augenblick heraus mit dem gehen, was kommt, unbelastet und frei. Abschiede können kreativ sein und belebend. Wir können sie gestalten und dabei unsere inneren Tiefen erleben, Freude am Wachstum haben und der inneren Weisheit begegnen. Ich möchte Sie dazu inspirieren, einmal einen Blick auf Ihre Gewohnheiten beim Abschiednehmen zu werfen.

Wie gehen Sie mit Abschieden um?
Stellen Sie sich vor, eine gute Freundin hat sich entschieden, nach Grönland auszuwandern. Dort hat sie eine Arbeit gefunden und auch schon ein kleines Häuschen, in das sie ziehen wird. Sie kennen sich seit zwanzig Jahren. Viele aufregende und schöne Stunden, Streit und Versöhnung haben Sie miteinander erlebt, sind zusammen verreist oder haben anderes zusammen unternommen; Sie beide sind ein Herz und eine Seele. Und nun steht der Abschied bevor. Ein unüberhörbares Gefühl sagt Ihnen, dass es zwar das Internet gibt, aber so richtig werden Sie für Jahre nun nicht mehr zusammen sein können. Ihre Freundin muss die nächste S-Bahn bekommen. Sie will nach Hause, ihr Gepäck holen und dann zum Flughafen. Sie sehen sich also das letzte Mal für lange Zeit persönlich. Wie werden Sie sich verabschieden? Haben Sie ein Geschenk für Ihre Freundin oder eine besondere Idee? Bringen Sie Ihre Freundin zur Wohnungstür, oder bleiben Sie lieber im Wohnzimmer, wenn sie geht? Gehen Sie mit ihr bis vor die Haustür? Begleiten Sie Ihre Freundin bis zur Bahn? Warten Sie, bis der Zug losfährt, und winken Sie ihr noch zu? Haben Sie das Bedürfnis, mit ihr nach Hause zu fahren, das Gepäck zu holen, um dann mit ihr zusammen den Weg zum Flughafen anzutreten? Warten Sie, bis Ihre Freundin am Flughafen eingecheckt hat, oder verabschieden Sie sich irgendwann vorher? Lassen Sie Ihre Tränen fl ießen, oder geben Sie Ihren Gefühlen auf andere Weise Raum? Die nähere Erforschung dieser Fragen kann Ihnen verdeutlichen, wie Sie mit den körperlichen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken umgehen, die beim Abschiednehmen in Ihnen berührt werden. Haben Sie den Eindruck, dass Sie Ihre Empfindungen zulassen, oder neigen Sie dazu, diese eher zu übergehen oder wegzudrängen? Welchen Gefühlen weichen Sie eher aus, welche meiden Sie oder glauben Sie, nicht ertragen zu können, und wie bestimmt das Ihr Verhalten? […]

Einige Menschen können es gar nicht aushalten, bis zur Haustür mitzugehen oder gar zum Bahnhof bzw. Flughafen. Andere wollen unbedingt bis zum letzten Moment dabei sein und jede Sekunde miteinander auskosten, auch wenn die Tränen fließen und das Herz schwer wird. Manche verabschieden sich lieber schon Tage vorher an einem neutralen Ort, rufen vor der Abreise noch einmal an und nehmen sich dann zum Zeitpunkt der Abreise etwas vor, nach dem Motto: Ablenkung tut gut, und das Leben geht weiter, nur ein bisschen anders. Wieder andere wirken kühl und beherrscht beim Abschied, ziehen sich zurück und machen Kummer und Schmerz lieber mit sich alleine aus. Es gibt vielfältige Reaktionen und Verhaltensweisen. Beim Abschiednehmen empfinden wir manchmal Hilflosigkeit, sind unsicher und befürchten, uns in der Öffentlichkeit zu blamieren, wenn wir schluchzend am Bahnhof stehen. Wir mögen unsere Gefühle nicht zeigen und wollen uns lieber zusammennehmen, stark sein. Solche Erwartungen und Ängste bestimmen unser Verhalten unter Umständen so sehr, dass wir uns entscheiden, öffentliche Abschiede zu vermeiden. Daraus entwickeln wir dann gewohnheitsmäßige Reaktionen, und kaum steht ein Abschied bevor, reproduzieren unsere Befürchtungen dieses Muster, was meist unbewusst geschieht. Solche Gewohnheiten können wir ändern, indem wir andere Wege des Abschiednehmens ausprobieren und unser Repertoire an Möglichkeiten beim Abschiednehmen erweitern.

Abschiede werden in unserer Gesellschaft im Allgemeinen eher als lästig empfunden, da sie mit Traurigkeit, mit Ängsten, belastenden Gefühlen, schwermütigen Gedanken und Sorgen, also Unangenehmem, verbunden sind. In unserer Konsumgesellschaft werfen wir viele Dinge einfach weg, wenn wir sie nicht mehr brauchen. Diese Ex-und-hopp-Mentalität übertragen wir auch auf Beziehungen oder Trennungen bzw. bewegende Abschiedserfahrungen. Wir bevorzugen die Ablenkung, fliehen bei belastenden Gefühlen ins Kino, in den Club, flüchten uns in immer neue Aktivitäten, lassen uns von unserem Terminkalender beherrschen, suchen nach einer Trennung von einem Lebenspartner schnell nach einem neuen, ohne die alte Beziehung aufzuarbeiten, usw. Wir nehmen uns kaum noch Zeit, innezuhalten, unseren Erlebnissen und Lernprozessen Raum zu geben. Den Trennungsschmerz betäuben wir durch die Droge des Vergnügens und des immer Neuen. Das Neue ist spannender. So taumeln wir von einer Beziehung zur nächsten auf der Suche nach Erfüllung in der Liebe oder von einem Job zum anderen in der Hoffnung auf eine sinnvolle Tätigkeit oder ein höheres Gehalt. Wir vermeiden unangenehme Gefühle, langweilen uns schnell, werden ebenso schnell ungeduldig und sind immer auf der Suche nach einem neuen Kick. Den Blick richten wir in die Zukunft, verdrängen die Vergangenheit und sind nie im Jetzt. In unserer Gesellschaft zählt Zukunftsorientierung. Rückwärtsgewandt will niemand sein. Beim Abschiednehmen wenden wir uns jedoch Vergangenem zu. […]

Mit Abschieden umzugehen ist eine Lebenskunst, und je mehr Interesse und schöpferische Gestaltungskraft wir dabei entwickeln, je mehr wir dem Abschied Raum geben, umso einfacher und reicher wird das Leben. Den Zauber eines Neuanfangs erleben wir mit ganzem Herzen, wenn wir Unerledigtes abgeschlossen, das heißt, wirklich Abschied genommen, also losgelassen haben. […]

Abdruck mit freundlicher Genehmigung: 2011 O.W.Barth Verlag,
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