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Das letzte Fest – das letzte Tabu

Das Kino hat seit seiner Erfindung als Jahrmarktattraktion viele Extreme durchgespielt. Zwei davon sind am auffälligsten: das Brechen von Tabus auf der einen und der Blick auf das gewöhnliche Material des Alltags auf der anderen Seite. Nicht selten ist der Tabubruch erst die Folge eines voyeuristischen Kamerablicks in den Alltag. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen. Dresens Film ist kein Tabubruch. “Halt auf freier Strecke” setzt zwar ein Thema auf die Agenda, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verdient, aber es vermeidet den Bruch mit dem letzten Tabu des Films, wie Amos Vogel es genannt hat: »Heute, wo uns der Sex im Hardcore-Porno zur Verfügung steht, bleibt der Tod das letzte große Tabu im Film«.

Sterbende zu begleiten, ist eine Aufgabe der Gesellschaft. Sobald diese Begleitung aber mit der Kamera dokumentiert wird, müssen sich Filmemacher der moralischen Beurteilung der Öffentlichkeit stellen, denn de Zuschauer beobachten den Filmemacher beim Beobachten der Sterbenden und urteilen über sein Erkenntnisinteresse. Anders als bei Kriegsfotografen, die sich selbst in Gefahr bringen, um der Welt Zeugnis
von Greueltaten zu geben, müssen sich Filmemacher, die Krebspatienten filmen, viel stärker legitimieren. So gilt es als voyeuristisch und pietätlos, die Kamera auf einen verzweifelten, weinenden Menschen zu halten und nicht abzublenden. Dem eigenen empathischen Impuls, Trost zu spenden, können die Zuschauer des Films nicht folgen. Der Filmemacher hätte es aber in der Situation tun können. Das mag der Grund sein, warum Andreas Dresen anders als beispielsweise Michael Roemer in seinem Dokumentarfilm »Dying« , »seinen«
sterbenden Krebspatienten mit einem Schauspieler besetzt. Roemer hingegen hatte viele Patienten über ein halbes Jahr im Krankenhaus und zu Hause begleitet, bevor er eine Auswahl traf und drei von ihnen und eine Angehörige in seinem Film zu Wort kommen ließ. Auch die Autorin Mechthild Gaßner setzte in ihrer Doku-Soap
»Die letzte Reise« über vier Sterbende auf den Dokumentarfilm. Sie begleitete dabei die Palliativmedizinerin Petra Anwar zu Patienten nach Hause und ins Hospiz. Die Filmaufnahmen fanden dabei in einem genau festgelegten Rahmen statt, in dem die Kamera für die Zuschauer stets wahrnehmbar bleibt. Die Kamera aber aus der Wahrnehmung nahezu verschwinden zu lassen, das kann nur die Illusionsfabrik des Spielfilms. So beginnt Dresens Film zwar in der typischen Haltung des Dokumentarfilms: mit dem Gespräch des Arztes, der dem Patienten eröffnet, nichts mehr für ihn tun zu können. Der Arzt, Dr. … , ist echt. Kein Schauspieler. Auch die Ärztin Petra Anwar spielt wieder mit. Doch das ethische Dilemma der Dokumentarfilmer stellt sich nicht. Dresen vermeidet den Tabubruch, verzichtet auf die Authentizität des »direct cinema« zugunsten
der Freiheit, viel näher an den Sterbenden zu kommen als er es im Dokumentarfilm je gekonnt hätte. Allein die Szenen, in denen der Familienvater und Patient Frank Lange (Milan Peschel) mithilfe seines iPhones spontan ein »Videotagebuch« führt, wären im Dokumentarfilm kaum denkbar. So zeigt Dresens Film zum einen die Arbeit der Helfer, die alle keine Schauspieler sind, und erzählt dabei die Geschichte eines Familienvaters, der plötzlich schwer erkrankt und dem nur noch wenig Zeit zu leben bleibt. Dresen richtet dabei weniger den Blick auf die erhabenen und poetischen Momente der Einsicht in die letzten Dinge, er fokussiert die Konflikte des Alltags. Von der Nachricht des Arztes, nichts mehr tun zu können, über die Frage, wie man es den Kindern sagt, bis hin zur schrecklichen Erfahrung, dass man jemanden mit einem Gehirntumor ab einem gewissen Stadium der Krankheit nicht unbedingt allein lassen sollte, weil es schon mal vorkommt, dass das Zimmer der Tochter mit der Toilette verwechselt wird oder noch schlimmeres passiert.

Dresen misstraut der Poesie des Todes zu sehr, als dass er die Darstellung des Sterbens in eine Abblende am Strand mit Sonnenuntergang münden ließe, wie Francois Ozon es in “Le temps qui reste” (Die Zeit, die bleibt, F 2005) getan hat. Dort ist es ein junger Mann, der ohne Familie stirbt. In Dresens Film ist der Zug schon abgefahren. Die Familie gegründet, das Haus finanziert und mitten auf der Strecke hält der Zug. Keine Endstation. Der Zug wird weiterfahren. Doch ohne den Familienvater. Dresens Misstrauen in die Poesie geht noch weiter. Die pubertierende Tochter des sterbenden Vaters, gespielt von Talisa Lilli Lemke, hat selbst ihre Mutter verloren. Sie fühlt, was sie spielt. Es soll eben nicht nur echt aussehen. Es soll echt sein. Der Film überschreitet damit immer wieder die Grenzen der Fiktion und verweist in die reale Welt des Zuschauers. Dem zugespitzten filmischen Realismus stehen einige absurde Szenen gegenüber, der Auftritt des personifizierten Tumors in der Harald-Schmidt-Show gehört dazu. Doch Dresen kann im Film nicht umhin, das Sterben zu zeigen, es vom Schauspieler bis zum Finale darstellen zu lassen.

Die Familie im Film, die vom Tod besucht wird, könnte für viele Zuschauer die eigene sein. Die Figuren – Vater, Mutter, zwei Kinder, Einfamilienhaus, Garage, Garten – bilden das Ensemble, das zum Bild einer kleinbürgerlichen Durchschnittsfamilie in Deutschland gehört und das für viele Menschen Lebenswirklichkeit
ist. Und als wäre das nicht Schmerz genug, verlegt Dresen die Frist, die bis zum Tod noch bleibt, in die Weihnachtszeit. In das Fest, das die meisten Familien mindestens einmal im Jahr zusammenführt. In die Zeit des ersten Schnees. Beim letzten Fest mit dem Papa wird der Weihnachtsbaum neben das Pflegebett gestellt und im Schlafzimmer gefeiert. Dresens Film bringt den Tod wieder dorthin zurück, wo er über Jahrhunderte lang ein unvermeidlicher Besucher war. Bevor der Tod vom heimischen Schlafzimmer ins Krankenhauszimmer
verlegt wurde, gehörte das Erleben des natürlichen Todes von Angehörigen zur selbstverständlichen Erfahrung. »Wenn man den natürlichen Tod schon nicht verhindern konnte, so konnte man ihn doch fast unsichtbar machen«, schreibt Vivian Sobchack in ihren 10 Thesen über Tod, Repräsentation und Dokumentarfilm. Die Leistung des Films, das Sterben sichtbar zu machen, kann sich »Halt auf freier Strecke« sicher zugute halten. Das letzte Tabu bricht er glücklicherweise nicht.